St. Otto, Oktober 2025
„Mit dem Wind“...
… hatte das bestimmt nichts zu tun, dass da an einem sonnigen Nachmittag im Herbst plötzlich ein Kalb auf dem Radweg vor mir stand. Der kleine Kerl war eindeutig ausgebüxt. Seine Kollegen, die brav auf ihrer Weide standen, hatten sich neugierig hinter dem Zaun versammelt, der auf den ersten Blick keinerlei Beschädigung aufwies. Wie war es dem Halunken nur gelungen, aus diesem Hochsicherheitstrakt auszubrechen? Schließlich gab es da sogar zwei Zäune, von denen einer unter Strom stand. Hatte der vielleicht die Flunder gemacht und war unter dem Zaun durchgerobbt? Oder einen großen Anlauf genommen um dann – hopp – das Hindernis mit einem beherzten Sprung zu überwinden?
Eine Leiter konnte ich jedenfalls nirgendwo entdecken, und Flügel oder gar riesige Ohren wie Dumbo, der Elefant, besaß das Kälbchen auch nicht. Vielleicht hatte es aber auch von einem leckeren Zauberkraut genascht? Oder einen ganz besonderen „Fliegen-Pilz“ verdrückt? So oder so: Das Kälbchen auf dem Radweg stellte ein Mysterium dar.
Das Staunen hatte ich aber nicht exklusiv. Zumindest schauten die restlichen Rindviecher ganz schön dusselig aus der Wäsche, und auch der Ausbrecherkönig selbst war offensichtlich mit der Situation alles andere als glücklich. Mit großen, ängstlichen Kuhaugen musterte er mich einen Augenblick, bevor er sich umdrehte und einen vorsichtigen Versuch unternahm, zurück auf die sichere Weide zu gelangen. Dieser merkwürdige Zweibeiner auf seinem rollenden Untersatz war ihm so gar nicht geheuer.
In eine Sackgasse manövrieren, aus reinem Übermut mal so richtig übers Ziel hinausschießen oder unverschuldet in der Patsche landen, und dann nicht wissen, wie man da wieder rauskommt. Das kennen wir alle. Und was brauchen wir in solchen Situationen? Na klar – jemanden, der uns beisteht und uns im besten Fall sogar hilft, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Weniger hilfreich sind in solchen Fällen Besserwisser-Hinweise, dass man aus Schaden klug würde, sich die missliche Lage selbst eingebrockt habe oder das nächste Mal einfach besser aufpassen müsse. Das braucht kein Mensch! Und auch kein einsames Kälbchen.
Also die Kollegen hinter dem Zaun haben zumindest nicht kritisch gemuht. Aber geholfen haben sie dem reumütigen Ausbrecher auch nicht. Räuberleiter oder eine kollektive Attacke gegen den Zaun? Fehlanzeige! Ich meinte aber, zumindest eine Art passiver Unterstützung, vielleicht sogar Anteilnahme, aus ihren ratlosen Mienen ablesen zu können. So ganz schien die Herde das Schicksal ihres Artgenossen nicht kalt zu lassen.
Zum Glück grenzte das Gehöft des zuständigen Landwirts direkt an die Weide. Und nach einem Hinweis meinerseits machte der sich kopfschüttelnd auf den Weg, um das verlorene Kalb wieder einzusammeln. Manchmal muss einfach nur der oder die Richtige kommen, um eine scheinbar aussichtslos festgefahrene Situation aufzulösen.
Und wenn gerade niemand vorbeikommt und man sich so richtig alleingelassen fühlt? Dann hilft auf alle Fälle ein Gebet. Denn Gott steht immer parat und an unserer Seite. Genau wie die Rindviecher hinter dem Zaun, die ihren Kollegen nicht im Stich gelassen haben. Die konnten ihm zwar nicht wirklich helfen, aber sie waren für ihn da. Und ich bin mir sicher: Wenn Rinder nicht vier Beine, sondern – wie wir – zwei Arme besitzen würden, sie hätten durch den Zaun Händchen gehalten.
Für andere da sein, wenn es ihnen schlecht geht. Das ist mitunter fast so wertvoll, wie ein aktives Hilfsangebot, das wir – ähnlich wie die Rinderherde – gar nicht immer leisten können. Denken Sie vielleicht ein wenig darüber nach, bevor sie das nächste Mal mit einem schulterzuckenden „Da kann ich sowieso nichts machen!“ weitergehen. Manchmal ist wenig viel und ganz wenig immer noch besser als nichts.
Herzlichst
Ihr
Markus Constantin
Rektor
St. Otto, September 2025
„Mit dem Wind“...
… werden die Tage schon wieder kürzer. Einfach unglaublich, wie schnell der Sommer vorbeirauscht und der Herbst bereits den Startblock verlassen hat. Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer beiden großen Sommerfreizeiten sind inzwischen wieder irgendwo in Deutschland in ihrem Alltag angekommen. Zeit also, ein wenig über die vergangenen Wochen nachzudenken.
Ein kleines Event, das traditionell zum Programm der Familienfreizeiten gehört, möchte ich Ihnen heute kurz vorstellen. Der ultimative Sandburgenbau-Wettkampf am Otto-Strand ist jährlich eines der absoluten Highlights. Dabei wetteifern bunt zusammengewürfelte Teams mit mindestens acht Teilnehmenden (es können aber auch mal 15 oder mehr sein) darin, in nur 20 Minuten entweder die höchste oder aber die schönste Sandburg zu errichten.
Die Prämierung der höchsten Burg stellt für die Jury in der Regel kein Problem dar. Falls das Augenmaß mal nicht ausreicht, wird eben zum Zollstock gegriffen. Irrtum? Unmöglich! Zahlen lügen nicht. Ganz anders sieht es da bei der Bewertung der schönsten Burg aus. Und das liegt in der Natur der Sache. Schönheit ist relativ. Während die Faktenlage bei der Bewertung der Höhe für sich spricht, existiert keine objektive Maßeinheit, kein Messinstrument für die Schönheit eines Bauwerks. Das gilt im Übrigen keineswegs nur für die Sandburgen am Otto-Strand. Der Versuch, den künstlerischen Wert einer Kür beim Tanzen, Eiskunstlauf oder Dressurreiten zu bewerten, ist in meinen Augen pure Willkür. Die technischen Schwierigkeiten, die können beurteilt werden. Aber die Schönheit oder Ästhetik einer Darbietung in ein Raster aus Punkten oder Noten pressen? Das war noch nie mein Fall.
Schönheit liegt einzig und allein im Auge des Betrachters. Sie lässt sich nicht isoliert bewerten, sondern ist in ein kompliziertes Geflecht aus Gefühlen, Emotionen, Beziehungen und Erfahrungen eingewoben.
Eine krakelige Kinderzeichnung, die vom Kunstlehrer mit einem „Ungenügend“ bewertet wurde, stellt für die liebenden Eltern ein wundervolles Kunstwerk dar. Oder nehmen wir nur das eigentlich recht kitschige Urlaubsandenken, das seine Schönheit aus den ganz besonderen Erinnerungen bezieht, die wir mit ihm verbinden.
Das menschliche Auge sieht nicht neutral, sondern nimmt Menschen, Dinge und Situationen immer wertend wahr. Dabei wird unser Wertesystem von persönlichen Erfahrungen, dem Lebensumfeld und – in unserer Zeit leider immer häufiger – von gesellschaftlichen Trends und Moden geprägt. Die Werbung, das Internet und der Mainstream definieren Schönheit unter kommerziellen Gesichtspunkten und oberflächlichen Aspekten. Wahre Schönheit kommt von innen? Bloß nicht! Viel zu individuell.
Ich behaupte: Nichts und niemand ist per se hässlich, nur weil eine Mehrheit – und sei sie noch so groß – meint, das so festlegen zu müssen. Auf welche Grundlage ich meine These stütze? Das ist doch ganz einfach: Gott in seiner Allmacht und Größe würde doch nie etwas Hässliches erschaffen. Warum auch? Hat er doch gar nicht nötig. Unsere Aufgabe, und das kann manchmal ganz schön schwierig sein, ist es, die Schönheit der Schöpfung in all ihren Nuancen zu erkennen und zu begreifen. Hat aber ja auch niemand gesagt, dass Gott uns die Sache einfach macht. Für solche vollmundigen Versprechungen sind eher die oben genannten Player zuständig.
Die Jury-Entscheidung beim Sandburgen-Schönheitswettbewerb ist übrigens gar nicht so schwer, wie das auf den ersten Blick scheinen mag. Im Wissen um die Vielfalt der Schönheit gilt es nur, mit scharfem Blick die individuellen Schönheitsmerkmale jeder Burg zu erkennen und bei der Preisverleihung zu würdigen. Und verdient gewonnen haben am Schluss wirklich alle.
Herzlichst
Ihr
Markus Constantin
Rektor
St. Otto, August 2025
Mit dem Wind…
… über einen Haufen leckerer Beeren gestolpert. Also zum Glück waren das nicht die mit dem “ä“. Die werden besser nur im Zoo besucht. Das ist deutlich sicherer, als einem Braun- oder Eisbären in freier Wildbahn über den Weg zu laufen. Und lecker sind die auch nicht. Obwohl: Wenn ich mich recht erinnere, wurden die Bärentatzen der Grizzlys damals in den Abenteuergeschichten von Karl May vernascht. Aber das war in einem anderen Jahrtausend.
Übrigens: Falls Sie den versprochenen zweiten Teil der Sinne-Kolumne aus dem Juli vermissen, haben Sie recht. Aber da kamen mir eben besagte Beeren dazwischen, die zunächst von mir verspeist wurden, um sich anschließend zu einer Kolumne zu entwickeln. Kann man nichts machen. Aber fest versprochen: Die restlichen Sinne gibt’s im September. Außerdem ist so ein Haufen leckerer Beeren ja auch eine sehr sinn-volle Angelegenheit. Ein zuckersüßer Augen- und Gaumenschmaus. Und wie die duften!
Aber jetzt mal zurück auf Anfang! Da spazierte ich die Tage ganz entspannt durch den Wald zwischen St. Otto und Trassenheide und wurde überraschenderweise fündig. Einige kleine Walderdbeeren säumten als rote Farbkleckse meinen Weg. Die Sonnenstrahlen der vergangenen Woche hatten sie zu waren Genussmonstern heranreifen lassen. Ganz anders als deren “erwachsene“ Kolleginnen, die man in den Supermarktregalen findet. Wenn die Winzlinge nur etwas größer ausfallen würden. Aber wahrscheinlich wäre dieser Genuss auch einfach zu übermächtig, um ihn zu verkraften. Stellen Sie sich mal eine voll ausgereifte Walderdbeere XXL in ihrem Mund vor! Der liebe Gott hat mit Sicherheit aus reiner Rücksicht auf unsere überforderten Geschmacksknospen dafür gesorgt, dass die Dinger so mickrig bleiben. Außerdem hätte ich neben einer riesigen Monster-Walderdbeere wahrscheinlich die ebenso leckere Blaubeere am Strauch daneben übersehen. Genauso klein wie die Normalo-Walderdbeere, aber in ihrem dunkelblauen Kleid deutlich unauffälliger. Soo lecker!
Ich kenne nicht wenige Menschen, die – mit großen Joghurtbechern bewaffnet – stundenlang vor sich hinpflücken. Marmelade, Müslizusatz oder einfach eine Vitaminbombe nach dem Abendbrot. Ich bin da ja eher der Typ Sofortverbraucher. Bücken, pflücken und ab in den Mund. Mhhh!!! Keine Geduld, sagen Sie? Nee, nee! Das ist reiner Selbstschutz, denn im Otto-Wald wimmelt es nur so von Zecken und Mücken. Und die wissen, welche Anziehungskraft die köstlichen Beeren auf ihre warmblütigen Opfer besitzen. So lauern sie im Halbdunkel zwischen den Büschen, um sich in blutdurstigen Wolken oder saugstarken Kolonien auf ihre arglosen Opfer zu stürzen. Doctan? Autan? Dicke Klamotten trotz 30°C im Schatten, oder andere, totsichere Hausmittelchen? Können Sie vergessen! Wahrscheinlich sind die Biester im Otto-Wald immun gegen jede Schutzmaßnahme. Oder ganz einfach nur seeehr hungrig!
Also bücken, zugreifen und ab in den Mund mit den Beeren. Und dann? Nichts wie weg.
Aber da existiert ja auch noch der böse Fuchsbandwurm, der auf den Beeren lauert, um uns das Leben zur Hölle zu machen! Ach, der Fuchsbandwurm. Den gab es in meiner Kindheit und Jugend noch nicht. Also zumindest nicht im kollektiven Bewusstsein der Beerenpflücker und Pilzsammler.
Nach vielen Jahren, in denen ich meinen Kindern Beerenpflückabstinenz verordnet habe, bin ich persönlich zur Variante “no risk, no fun“ zurückgekehrt. Das Leben ist viel zu schön, um auf den unvergleichlichen Genuss frisch gepflückter Beeren zu verzichten und stattdessen vor allem und jedem Angst zu haben. Also außer vor den fiesen Mücken natürlich!
Sie sind noch nicht auf meinem Altersignoranzniveau angekommen? Dann nehmen Sie sich doch einfach die schönen Brombeerhecken an der Wolgaster Waterkant vor. Die Beeren bis Kniehöhe überlassen sie getrost dem Bandwurm. Duellieren Sie sich stattdessen um die sonnengereiften Exemplare in luftiger Höhe mit den ortsansässigen Piepmätzen. Um den ein oder anderen Zeckenbiss oder Mückenstich werden Sie natürlich auch hier nicht herumkommen, denn die Gleichung Beere+lecker=Mücke+Zecke gilt - bis auf holländische Gewächshäuser - mit absoluter Zuverlässigkeit. Das ist empirisch bewiesen und persönlich validierter.
Sie sind zu klein, um die oberen Regionen zu erreichen? Kein Problem: So eine transportable Alutrittleiter ist doch nicht schwer. Nur hüten Sie sich vor neidischen Mitbürgern! Es soll schon vorgekommen sein, dass der ein oder anderen Pflücker mitsamt seiner Leiter in die Hecke geschubst wurde. Das soll richtig unangenehm sein, habe ich mir berichten lassen.
Aber warum hat uns der liebe Gott das Pflücken eigentlich so erschwert, indem er die meisten Beeren nicht nur mit wehrhaften Dornen versehen hat, sondern zudem noch mit einer Schutz-Armada von blutsaugenden Quälgeistern. Schließlich heißt der doch “lieber“ und nicht “fieser“ Gott?
Ich denke, die Sache ist klar. Der liebe Gott denkt an alle. Und wir, wir denken oft nur an uns. Wenn der Schöpfer keine wirksamen Regulierungsmaßnahmen in Form der blutsaugenden Parasiten engagiert hätte, würde der erste Pflücker mit Sicherheit für einen Beeren-Kahlschlag sorgen. Und was bliebe dann für den Rest? Nichts! All die leckeren Beeren in einen Magen? Das wäre doch wirklich ungerecht. Oder was meinen Sie?
Herzlichst
Ihr
Markus Constantin
Rektor