St. Otto, November 2024
„Mit dem Wind“...
… an einem Morgen Anfang November über den Heiligen Martin nachgedacht. Aus gutem Grund. Der Wind kam an diesem Tag nämlich besonders eisig daher und blies mir außerdem direkt ins Gesicht. Mann, war das kalt! Wie damals, als Martin seinen Mantel mit dem frierenden Bettler geteilt hat.
Während ich bibbernd weiter in die Pedale trat, stellte ich mir vor, wie das mit dem Teilen wohl so vonstattengehen würde. Heutzutage. Immerhin saß ich – wie dereinst der Heilige – auf meinem Pferd, also dem Drahtesel, und trug eine leidlich wärmende Jacke. Teilen? Die rechte Seite an den Bettler, während ich die linke behielt? Oder er die obere Hälfte und ich das Stück von den Armen abwärts? Allein die Vorstellung reichte aus, um mein Kältezittern zu einem Crescendo anwachsen zu lassen. Wem wäre denn geholfen, wenn wir beide erfroren am Straßenrand enden würden?
Zum Glück war weit und breit kein frierender Bettler zu sehen, auf der Landstraße zwischen Neeberg und Krummin. Die waren da auch eher selten unterwegs. Außerdem wäre das mit dem Teilen ja spätestens am fehlenden Schwert gescheitert. Ich zumindest hatte meines zusammen mit dem Morgenstern und der Turnierlanze zu Hause gelassen. Aber wer weiß: Vielleicht hatten die heutigen Bettler für solche Zwecke immer eine scharfe Schere parat?
Wie auch immer: Das musste damals eine ziemlich unkomfortable Situation gewesen sein, für den Heiligen Martin. Auch wenn sein Mantel mit Sicherheit deutlich voluminöser gewesen ist, als meine dünne, gewichtsoptimierte Fahrradjacke. Hat er schon verdient, dieser Herr Martin, seine Heiligsprechung!
Im gut beheizten Büro fanden die Lebensgeister langsam wieder zurück in meinen Körper. Aber mussten die unbedingt den Weg durch meine tiefgekühlten Finger nehmen? Verdammt! Das schmerzte gewaltig! Und trotzdem: Ich war froh über den Luxus eines wohlig warmen Arbeitsplatzes zu verfügen. Fingerauftauschmerzen hin oder her.
Abgeben, teilen, sich von etwas Liebgewonnenem oder Notwendigen trennen, um so einen Menschen in Not zu unterstützen fällt uns schwer. Damit meine ich nicht die Spende hier oder das Kleingeld für den Klingelbeutel dort und auch nicht die abgetragenen Klamotten, die in der Altkleidersammlung landen. Klar: Das hilft alles und ist besser als nichts. Aber was Jesus von dem Reichen verlangte, der mit seinem ganzen Vermögen nicht ansatzweise durch das Nadelöhr passte, ist mehr als das. Er erwartet ein richtiges Opfer von uns. Eine Art persönlichen Offenbarungseid.
Aber alles verschenken, um dann selbst Unterstützung zu benötigen? Das kann doch keine Lösung sein – und war auch nicht die Absicht Jesu. Der – das wissen wir aus anderen Zusammenhängen – war nämlich eigentlich ein richtiger Provokateur. Einer, der radikale und absolut unerfüllbare Forderungen stellte, um uns Menschen zum Nachdenken, zum Überdenken der eigenen Handlungsoptionen zu bringen.
Teilen, jenseits unserer Komfortzone. Nicht nur das abgeben, was man gut und gern entbehren kann, sondern zum einen die wirklichen Bedürfnisse des anderen erkennen, zum anderen schrankenloser zu denken, als wir das in unserem bequemen Alltag gewohnt sind. Das gilt übrigens nicht nur für materielle Güter. Liebe, Zuwendung, Zeit, mentale und emotionale Unterstützung – es gibt unendlich viele Bereiche, in denen wir, was unsere Support-Möglichkeiten betrifft, bei genauem Nachdenken noch ordentlich Luft nach oben haben.
Nehmen wir doch einfach viel öfter eine Laterne in die Hand, statt möglichst unauffällig unter dem nächstbesten Scheffel abzutauchen. Zeigen wir Flagge und die Bereitschaft zu helfen, auch jenseits unserer persönlichen Komfortzone. Dann sind wir auf einem guten Weg durch das enge Nadelöhr. Der heilige Martin ist da mit seinem halbierten Mantel im Übrigen bestimmt bestens durchgerutscht.
Herzlichst
Ihr
Markus Constantin
Rektor
St. Otto, Oktober 2024
„Mit dem Wind“...
… aus gegebenem Anlass über uns Meckerköppe nachgedacht. Also Sie und mich und die ungefähr 8 Milliarden weiteren auf unserer Erde. Na gut: Es mag ein paar Grundgütige geben, aber die fallen bei der Masse der anderen nun wirklich nicht ins Gewicht.
Aber jetzt mal von Anfang an: Ich war mit dem Rad unterwegs und auf der Suche nach einem Motiv für das Cover meines neuen Wolgast-Krimis. Ein paar Stellnetze im Achterwasser sollten es sein. Inzwischen eine Rarität. Wer fischt denn heute noch im Achterwasser? Also außer den Kormoranen und den Anglern auf der Amazonenbrücke in Wolgast.
Bereits im Frühjahr hatte ich einen der wenigen verbliebenen Stellplätze ausgespäht. Zwischen Neuendorf und Krummin entdeckte ich nämlich tatsächlich noch ein paar ufernahe Netze, die sich, auch ohne nasse Füße zu bekommen, fotografieren lassen würden. Jetzt, im September, mit dem spätsommerlich blauen Himmel über mir, ein paar entspannt dahinsegelnden Möwen und mit etwas Glück einem Segelboot am Horizont: Das musste ganz einfach ein perfektes Bild werden!
Voller Vorfreude nahm ich den holprigen Plattenweg unter meine schmalen Rennradreifen – normalerweise meide ich solche Pfade wie die Pest – und wurde nicht enttäuscht. Das Schilf am Ufersaum leuchtete in einem satten Grün. Auf den Stangen, an denen die Netze befestigt waren, ruhte ein Graureiher in trauter Eintracht mit einigen Seeschwalben, und die strahlende Spätsommer-Sonne verlieh der pittoresken Szenerie einen goldenen Glanz. Einfach grandios! – Wäre da nur diese Absperrung nicht im Weg gewesen. Der Fischer, oder wer auch immer, hatte ein Tau vor den Zugang zum Uferbereich gespannt. Kein wirkliches Hindernis, aber als bravem Deutschen war mir sofort klar: Durchgang verboten! Hier darfst du nicht weitergehen! Der Grund für die Absperrung erschloss sich mir nicht. Ein Wespennest oder andere mögliche Gefährdungen, die eine Absperrung notwendig gemacht hätten, konnte ich nicht entdecken. Außerdem zog sich durch das Gras – gut zu erkennen – ein Trampelpfad …
Ich sah mich um. Niemand zu sehen, den man um Erlaubnis fragen konnte. So ein Mist! Meine Regel- und Gesetzestreue focht einen minutenlangen Kampf mit dem Verlangen aus, dieses einmalige Motiv abzulichten. Sie zog – Sie ahnen es – dann doch den Kürzeren. Die Verlockung war einfach zu groß.
Mit ziemlich schlechtem Gewissen stieg ich über das Tau, setzte zaghaft einen Fuß vor den anderen – und vernahm im gleichen Augenblick ein Motorengeräusch. Ein steinalter Kastenwagen näherte sich. Und während mein schlechtes Gewissen die Oberhand gewann, ich meine Fotopirsch abbrach und versuchte im Galopp die Sperrzone zu verlassen, stoppte der PKW. Die Seitenscheibe wurde heruntergelassen und sofort begann mich der Fahrer, im Übrigen ein steinalter Kauz, nach Strich und Faden zu maßregeln. (Ein anderes Wort, das den Redefluss des eskalierenden Seniors treffender beschreiben würde, erspare ich Ihnen …).
Trotzdem stapfte ich mutig der Schimpftirade des offensichtlichen Eigentümers entgegen. Ich hatte die Hoffnung, mich für mein unerlaubtes Eindringen entschuldigen zu können und gleichzeitig die Gelegenheit zu erhalten, mein Anliegen schildern zu dürfen. Aber Pustekuchen. Mit einer letzten wüsten Drohung, die die Begriffe Hund und Polizei enthielt, rumpelte der Kerl in seinem Oldtimer von hinnen, bevor ich überhaupt zu Wort gekommen war. Umdrehen und trotzdem ein Foto machen? Ging nicht mehr. Da war der Schatten zu groß, über den ich hätte springen müssen.
Missmutig stieg ich auf mein Rad und holperte in Richtung Krummin. Warum hatte der mir denn nicht zugehört? Ich hätte ihm doch alles erklären können. Aber, das sah ich dann schnell ein, der wollte überhaupt keine Erklärung. Erst recht nicht von so einem bunten Vogel mit Helm und Fahrradschuhen. Und außerdem war er ja auch völlig im Recht. Seine Wiese, seine Absperrung und ich ein unbefugter Eindringling.
Trotzdem hielt der Ärger bei mir an. Warum müssen die Menschen immer gleich meckern und motzen, statt erst einmal zuzuhören? Klar, macht es deutlich mehr Mühe, die Argumente des anderen anzuhören, um möglicherweise sogar dessen Denkansatz zu verstehen. Kostet Zeit, Nerven und Hirnschmalz. Niedermotzen oder –meckern und Ruhe ist! So einfach ist die Sache. Aber hätte der Wüterich im Auto mir eine Sekunde zugehört und dann mein Anliegen abgelehnt – ich wäre zwar etwas betrübt aber längst nicht so verärgert nach Hause gefahren. Seine Wiese, seine Entscheidung. Die hätte ich selbstredend respektiert.
Während ich hier sitze und diese kleine Geschichte für Sie aufschreibe, fällt mir eine Szene aus dem Neuen Testament ein. Ich denke an die Tempelreinigung, die in allen vier Evangelien beschrieben wird. Ein wütender Jesus stößt die Verkaufstische der Händler um und zerstört deren Auslagen.
„Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus“, wird er bei Johannes zitiert. Auf Diskussionen mit den Händlern lässt er sich gar nicht erst ein. Dass die mit dem Verkaufserlös ihre Familien ernähren müssen, gegebenenfalls nur angestellt sind und die zerstörten Tische und verdorbenen Waren aus eigener Tasche ersetzen müssen, interessiert Jesus nicht die Bohne. Er wütet, tobt – und ist natürlich im Recht.
Wahrer Mensch und wahrer Gott. In diesem Moment – so meine Interpretation – hat wohl der wahre Mensch in Jesus gesiegt. Da war Jesus mal so ein richtiger Meckerkopp.
Und wir? Wir haben die Chance, es tatsächlich an einer Stelle mal besser zu machen als unser biblisches Vorbild an dessen Ansprüchen bezüglich Lebensführung und Umgang mit unseren Mitmenschen wir so oft scheitern. Das ist doch mal ein Anreiz! Nicht wahr?
Und das Bild zu dieser Kolumne? Das stammt aus dem Frühjahr. Freiwillig begebe ich mich nicht mehr in den Tempel – Verzeihung – auf die Fischer-Wiese!
Herzlichst
Ihr
Markus Constantin
Rektor
St. Otto, September 2024
„Mit dem Wind“...
… die falsche Entscheidung getroffen. Mal wieder! Gestern, als ich durch einen herrlichen Spätsommermorgen zur Arbeit geradelt bin, hatte ich mir vorgenommen, heute besonders früh aufzustehen und unterwegs am Achterwasser das ein oder andere Foto zu schießen, mich an einem der kleinen Häfen auf einen Steg zu setzen und der Sonne beim Aufgehen zuzuschauen.
Aber Pustekuchen. Statt Sonne gab es Wolken satt. Dazu noch einen kühlen Wind aus Südost, obwohl der Wetterfrosch im Fernsehen etwas ganz anderes versprochen hatte. Frieren statt genießen war angesagt. Zu allem Überfluss lag da noch ein Haufen abgetragener Klamotten auf dem Steg, die wohl irgendwer dort entsorgt hatte. Idylle am Achterwasser? War gestern! Wäre ich nur in meinem Bett geblieben.
Falsche Entscheidungen treffen wir regelmäßig. Oder treffen sie etwa uns? Keine Ahnung, wie das mit den Entscheidungen so im Allgemeinen und im Besonderen ist. Ich weiß nur, dass mir ohne langes Nachdenken zahlreiche Beispiele für suboptimale Entscheidungen meinerseits einfallen. Erst vorgestern stand ich zum Beispiel am Ende einer langen Kassenschlange und stellte mich angesichts der vollen Einkaufskörbe meiner Mitsteher auf mindestens 15 Minuten Wartezeit ein. Mindestens! Da ertönte – erhofft, aber nicht erwartet – ein wohlbekannter Gong, und die verheißungsvolle Durchsage: „Gleich wird Kasse 2 für Sie geöffnet!“, ließ mich zum entsprechenden Förderband eilen.
Natürlich war ich nicht der Einzige, der die Durchsage vernommen hatte. Und nicht der Schnellste. Brav reihte ich mich an Position 4 ein. Immerhin war ich damit geschätzte 10 Plätze vorgerückt. Allerdings dauerte es doch ziemlich lange, bis sich ein junger Mann der Kasse näherte, etwas unsicher die Absperrung öffnete und umständlich hinter dem Förderband Platz nahm. Was war denn mit dem Typen los? Der schlief ja bei der Arbeit fast ein! Erst eine Kundin hatte der Jüngling abgefertigt. Und das in einem Schneckentempo, während es an der anderen Kasse flott voran ging. Ich war mir inzwischen gar nicht mehr sicher, ob der Kassenschlangenwechsel die richtige Entscheidung war.
In diesem Moment ertönte eine weitere Durchsage: „Filialleitung zu Kasse 2, bitte!“ Der Supergau beim Kassenstau, wie alle Supermarktkunden wissen! Ich hätte mich in den Hintern beißen können. Wäre ich bloß in meiner Schlange stehengeblieben! Vielleicht noch einmal wechseln? Ein Blick nach hinten. Auf die Idee waren die anderen allerdings auch schon gekommen. Hinter mir stand keiner mehr an. Dafür hatte die andere Kassenschlange ihre ursprüngliche Länge wieder erreicht. Da half nur eines: Den Schalter von Tempo auf Tiefenentspannung umlegen und statt verzweifelt auf die digitale Uhrzeit des Kassenmonitors zu starren, dem jungen Mann bei der Arbeit zuschauen.
Machte der eigentlich schon ganz gut, der Jungspund. Das Schildchen mit der Aufschrift “Ich bin neu“ an seinem Kittel lieferte dazu noch die Erklärung für seine noch nicht ganz so optimale Performance. Aber dem Kunden in die Augen schauen, ihn trotz Stress freundlich zu begrüßen und nach erfolgter Zahlung mit einem weiteren Gruß zu verabschieden, das hatte er schon gelernt. Alle Achtung!
Eigentlich, dachte ich auf dem Nachhauseweg, war die Entscheidung für den jungen Mann doch gar nicht so schlecht. So freundlich war ich, wenn ich ehrlich bin, schon lange nicht mehr bedient worden. Und vielleicht kommt es mitunter einfach nur auf die Kriterien an, nach denen wir Situationen beurteilen. Ändern wir unsere Erwartungshaltung, dann ändert sich nämlich oft auch die Situation.
Wenn wir zum Beispiel Jesus nehmen. Dem wurde vor 2000 Jahren auch regelmäßig mit einer Erwartungshaltung begegnet, die er weder erfüllen konnte noch wollte. Mit Feuer und Schwert die Römer vertreiben. Sich als König der Israeliten auf den Thron setzen. Die Feinde Israels vernichten, wie einst Gott die Ägypter im Roten Meer. Alles so überhaupt nicht die Sache Jesu. Es dauerte lange, bis die Menschen – zunächst vielleicht sogar nur seine Jünger – verstanden hatten, dass sie ihre Erwartungshaltung, ihren Blickwinkel auf diesen merkwürdigen Propheten ändern mussten, um zu verstehen, wer Jesus wirklich war und was er wollte.
Den Blickwinkel auf Situationen und Personen ändern. Unsere Erwartungshaltung überdenken und gegebenenfalls anpassen. Das ist kein Zeichen von Schwäche oder Nachlässigkeit, sondern eröffnet uns ganz neue Perspektiven, die wir sonst verpasst, übersehen oder einfach ignoriert hätten.
Noch mal zurück ans Achterwasser. Als ich missmutig gerade wieder auf mein Rad steigen wollte, prustete es neben dem Steg. Ein verirrtes Walross? Ich wartete gespannt. Im nächsten Augenblick erklomm sie die kleine Badeleiter. Nein, keine Meerjungfrau, sondern eine ältere Dame, die sich schüttelte wie ein nasser Hund und zu dem ominösen Kleiderberg stapfte. „Herrlich! Nicht wahr, junger Mann? Bei dem Wetter hat man das Achterwasser fast für sich.“ Sie strahlte. „Käffchen? Ich hab zwei Tassen mit!“ Dann zog sie eine Thermoskanne und zwei emaillierte Henkelpötte unter dem Kleiderberg hervor, wickelte sich in einen Morgenmantel und setzte sich auf den Steg.
Ich grinste. Als jungen Mann hatte mich mit meinen 57 Lenzen auch schon lange niemand mehr bezeichnet. Und der Kaffee? Der schmeckte auch, ohne sich vorher Durst im Achterwasser angeschwommen zu haben.
Herzlichst
Ihr
Markus Constantin
Rektor